Der Brexit ist beschlossene Sache und nun auch in den Köpfen der Bevölkerung und der Unternehmer realisiert. Hat sich die Lage jedoch bereits beruhigt, oder ist nach wie vor die Unsicherheit allgegenwertig? Wir haben den österreichischen Wirtschaftsdelegierten in London Dr. Christian Kesberg zum Gespräch gebeten.

Wie beurteilen Sie mit Abstand zum ersten großen Schock die derzeitige Stimmung in London bzw. im Vergleich in der österreichischen Wirtschaft?
Das Stimmungsbild in Großbritannien hängt stark davon ab welche Zeitung Sie gerade lesen und in welche Bevölkerungsgruppe Sie gehören.
Die einen scheinen nach wie vor optimistisch zu sein, dass sich der Schnitt mit der EU als der richtige Weg entpuppt und dass Großbritannien einmal befreit aus dem Würgegriff der Bürokraten in Brüssel als „global player“ reich und mächtig werden wird. Das andere Lager ist der Meinung, dass der Brexit schon in der Verhandlungsphase mit schmerzhaften wirtschaftlichen Folgen verbunden ist und das dicke Ende noch kommt. Danach sieht es ja nach dem derzeitigen Verhandlungsstand auch aus.
Spannend ist dabei, dass auch die Unternehmerschaft nicht eindeutig pro Verbleib in der EU ist. Es gibt viele, gerade unter den Gewerbebetrieben und kleineren Unternehmen, die im Lager der Leave-Kampagne anzutreffen waren bzw. sind.
Ist für Unternehmer in London die Unsicherheit nach wie vor allgegenwärtig oder hat sich die Lage bereits beruhigen können?
Natürlich ist die Unsicherheit über die zukünftige Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Europäischen Union gerade unter Unternehmen ein großes Thema. Die Unternehmensverbände warnen vor einer zu harten Gangart, vor einem zu harten Abbruch des Zugangs zum Binnenmarkt.
Die Investitionsnachfrage geht zurück, die Firmen investieren kaum noch etwas. Aber die Wirtschaft wächst trotzdem, wenn auch im Vergleich zum Konjunkturschub in der EURO Zone eher matt. Einerseits weil das billige Pfund die Exportwirtschaft stützt. Andererseits sitzen die Konsumenten noch nicht auf ihren Brieftaschen. Ist auch nicht verwunderlich. Tatsächlich hat sich bis jetzt noch nichts großartig geändert. Aber Laster haben lange Bremswege.
Um auch auf die österreichische Wirtschaft einzugehen. Wie sehen die Auswirkungen auf die österreichischen Exporte aus?
Großbritannien ist unser 8-wichtigster Handelspartner, besser gesagt 8-wichtigster Exportmarkt. Die Auswirkungen auf die österreichische Volkswirtschaft halten sich daher im Bereich des kaum Wahrnehmbaren bzw. werden auch dortbleiben. Man spricht derzeit von einem Minus des BIP in der Größenordnung von 0,1 % über die nächsten Jahre.
Die österreichischen Exporte sind zwar im Vorjahr zurückgegangen, nachdem sie 3 Jahre hintereinander massiv zugelegt haben. Dieser Rückgang hat allerdings nichts oder kaum etwas mit dem Brexit zu tun. Diese minus 2% im Vorjahr und die derzeitig stagnierende Entwicklung sind auf große Schwankungen bei Inter-Company-Transfers zurückzuführen und nicht auf den Brexit.
Und österreichische Unternehmen mit Niederlassungen in Großbritannien?
In Großbritannien sind derzeit etwa 250 österreichische Unternehmen tätig. Darunter Riesen wie Novomatic, Wienerberger oder Zumtobel mit wirklich großen Töchtern. Die sind allerdings alle nicht hier, um von hier aus den europäischen Markt zu bearbeiten.
Diese Firmen leiden unter Umständen darunter, dass das Wirtschaftswachstum in Großbritannien flacher verläuft, als es eventuell ohne Brexit verlaufen wäre. Das heißt, österreichische Unternehmen stört der Brexit keineswegs so wie es beispielsweise Nissan oder Honda stört. Die wollen von der Insel aus den europäischen Markt bearbeiten.
Bleiben wir bei den Unternehmen die es tatsächlich betrifft. Konnten diese Firmen gut reagieren und sind sie gut für die kommenden Herausforderungen vorbereitet?
Das Schlüsselwort ist Unsicherheit. Die Unternehmen tun sich natürlich schwer sich auf einen Tag danach vorzubereiten, von dem niemand weiß wie er aussehen wird. Keiner hat eine Ahnung was am 31. März 2019 passieren wird. Es gibt ein breites Band an Möglichkeiten. Das Zurückfallen auf WTO-Regelungen ist genauso möglich wie der unerwartete Verbleib von Großbritannien im europäischen Wirtschaftsraum und der Zollunion. Das wird zwar weitläufig für unmöglich gehalten, jedoch hat die Labour Party genau einen solchen Ausgang vor Kurzem zum politischen Ziel erklärt.
Grundsätzlich muss man jedoch die Kirche im Dorf lassen. Auch mit den USA handeln wir, mangels eines Freihandelsabkommens, mit den Regelungen der WTO und machen ein Bombengeschäft.
Jetzt stecken wir ja Mitten in den Verhandlungen. Bekanntlich gibt es zwei Phasen, die Entflechtung Großbritanniens mit der EU und danach erst die künftigen Beziehungen zwischen Union und London. Gibt es in der aktuellen Entflechtung auch Chancen für die österreichische Wirtschaft oder gilt es die zweite Phase abzuwarten?
Chancen gibt es in jeder Krise. In diesem Fall muss man allerdings schon genauer schauen. Es wäre aber durchaus möglich, dass die britische Regierung die wirtschaftlichen Nachteile der Unsicherheit in der Verhandlungsphase durch erhöhte Staatsausgaben auszugleichen versucht. Im Infrastrukturbereich, im Energiebereich. Das sind Bereiche die mit den Stärkefeldern österreichischer Lieferanten korrelieren. Hier könnte Österreich profitieren. Das sind aber schon eher komplexe Konstrukte.
Es sind ja bereits Abwanderungen im Bankensektor bekannt und auch die Immobilieninvestitionen gehen in London zurück. Wie muss sich hier die österreichische Wirtschaft und auch Politik einbringen um bestmöglich davon profitieren zu können?
Beim Abwerben von Banken und Unternehmen sind die Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Der Bankensektor in London wird durchaus eine Delle davontragen, aber mit Sicherheit keinen Totalschaden einfahren. Nur zu den Größenordnungen: Wir reden von 2,2 Millionen Angestellten im britischen Finanzsektor, 800.000 davon in der City of London. Sollte 1% abwandern sprechen wir von 20.000 Menschen. Das ist mehr als jeder andere Finanzplatz absorbieren könnte.
Auch bei anderen Branchen sehe ich Österreich nicht als typische Fluchtdestination. Österreich ist ein Land mit exzellenten Bedingungen beispielsweise im Hochtechnologiesektor. Allerdings ist Österreich weder ein Niedriglohn- noch Niedrigsteuerland.
Ein derzeit für Österreich aktuelles Thema sind die europäischen Agenturen. Es laufen aktive Bewerbungen für die EMA (European Medicines Agency) und EBA (European Banking Authority). Wie sehen Sie die Chancen?
Österreich hat gerade bei der EMA ein wirklich perfektes, politisch harmonisch akkordiertes Angebot abgegeben. Da haben alle an einem Strang gezogen, ein schönes Beispiel dafür, dass es doch funktionieren kann.
Hier bestehen gute Chancen. Allerdings haben sich mehr als 20 europäische Städte beworben und das Prädikat „gute Chancen“ trifft noch auf vier bis fünf andere Bewerber zu.
Die EMA wäre mit ihren 900 Mitarbeitern und ihrer enormen Anziehungskraft auf die Pharmaindustrie und den angeschlossenen Consulting Sektor ein spannender zusätzlicher Wirtschaftsfaktor für Österreich.
Wien wird gerade mit seinen Top-Werten in Sachen Lebensqualität von den Mitarbeitern als durchaus attraktiver Standort gesehen, leider haben die aber keine Stimme im Prozess. Es spielen zwar Faktoren wie Verkehrsanbindung eine Rolle, aber es gibt auch Faktoren die nicht mit dem Standort zu tun haben, wie dem Punkt, ob die Bewerberstadt bereits eine europäische Agentur beheimatet. Und das tut Wien.
Am 20. November sollte hier eine Entscheidung fallen. Das heißt warten und hoffen, dass es insgesamt genug war.
Sehen Sie nach wie vor einen Dominoeffekt für den Austritt anderer EU-Länder?
Ich glaube nicht. Ich glaube eher, dass das ein Integrationsschub für so einige Länder sein könnte. Die Zeichen stehen jetzt ganz deutlich an der Wand, was passiert, wenn eine solche Frage an das Volk gestellt wird.
Das Verhandlungsmandat, das die 27 auf den Weg nach Brüssel mitgegeben haben, spricht ein deutliches Zeichen dafür. Das wird anderen helfen in ihrer eigenen politischen Szene eine Mehrheit für eine positive Position zur europäischen Integration zu schaffen.
Demnach hat der Brexit weder enorme Nachteile noch nennenswerte Vorteile die Österreich direkt treffen?
Der Brexit ist für die europäische Integration definitiv nachteilig. Er schwächt Europa. Großbritannien war immer ein Hort der Liberalität, der Menschrechte, der Demokratie und wirkte auf Europa stets politisch entspannend und zivilisierend. Aber natürlich auch bremsend. Die Briten waren immer Rechenschieber-Europäer, keine Herzens-Europäer.
Der Austritt Großbritanniens verschiebt auch politisch und sicherheitspolitisch Europa Richtung Osten. Wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft, die zweite Atommacht Europas mit Sitz im Sicherheitsrat, wegfällt, ist das für die EU schmerzhaft.
Das alles sind Nachteile die auch für Österreich eine wirtschaftliche Komponente haben. Aber in der direkten makroökonomischen Analyse glaube ich, wird es Österreich nicht besonders bzw. überhaupt nur kaum zu spüren bekommen. Aber auch da muss man unterscheiden zwischen volkswirtschaftlichen Konsequenzen und einzelnen Verlierern, die es mit Sicherheit geben wird.
Autor: Isabella Auer
Bilder: ZVG | Pixabay
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